4 Der Leitaufsatz zum Umschlagbild Reunionsprojekt“ kommt in der allgemeinen hessischen Geschichtsschreibung überhaupt nicht vor, obwohl es das „aufgeklärte Deutschland“ um 1780 offensichtlich sehr bewegte und es in den „Fuldaer Geschichtsblättern“ von 1911 bereits auf 30 Seiten beschrieben wurde. Auch die vielen jüngeren historischen Publikationen der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck kennen weder das Thema noch die Namen seiner Autoren. Tatsächlich arbeiteten hier führende Theologen beider Konfessionen in den Jahren 1776 bis 1783 an diesem Vereinigungsprojekt in regelmäßigen Sitzungen zusammen, ein Beispiel dafür, dass sich Ökumene – und auch hier in der Aufklärung – nicht nur in Thesenpapieren und Beschlüssen dokumentiert, sondern auch in gelebtem Miteinander und gemeinsamer Glaubenspraxis. Die gedruckten Programme und gefassten Einigungsbeschlüsse erschienen als Bücher 1781 in Frankfurt a. M. und Leipzig sowie 1782 an der Universität Göttingen. Die Aktivität Piderits in Kassel stand ganz offensichtlich unter dem Schutz und dem Wohlwollen des katholischen Landgrafen Friedrichs II. Dies ist ein Beispiel dafür, dass dessen Rolle in kirchlichen Fragen und in seinem katholischen Umfeld keineswegs nur als religionspolitische Abstinenz zu sehen ist, wie es bisher immer geschieht. Eine besondere Rolle kommt hier Rudolf Erich Raspe zu. Der Universalgelehrte am Kasseler Hof besaß das besondere Vertrauen des Landgrafen und pflegte mit diplomatischem Geschick und Takt die Beziehungen des Landgrafen auch zu den katholischen Nachbarn in Westfalen. Raspe stand in Korrespondenz mit dem Ersten Minister und Generalvikar Franz von Fürstenberg in Münster und seinem Kreis mit der Fürstin Gallizin und den Brüdern Stolberg (alle Konvertiten). Andere Beispiele sind die Kontakte zu Klöstern wie Hardehausen. Wertvolle Handschriften gelangten als Geschenke an den Landgrafen und gehören heute zu den Schätzen der Kasseler Bibliothek. Die Jesuiten in Büren schützte Friedrich (1773) in Berufung auf die hessische Schutzherrschaft des 15. Jahrhunderts vor der vom Papst geforderten (1772) Auflösung ihres Konventes. In die hessen-kasselische Nachbarschaft gehörte auch das protestantische Erfurt mit der katholischen mainzischen Herrschaft, die von Karl Theodor von Dalberg als Koadjutor des Erzbischofs repräsentiert wurde. Seine Verbindung zur Kasseler Aufklärung und zur Weimarer Klassik schlägt auch eine Brücke zum aufgeklärten Fulda unter Fürstbischof Heinrich von Bibra mit der von Fürstabt Adolf von Dalberg 1734 gegründeten Universität, wesentliche Basis des „Böhm-Pideritschen Reunionprojektes“. Die Brüder Karl Theodors waren der Trierer Domherr und Freund Joh. Gottfried Herders, Johann Friedrich Hugo von Dalberg, und Wolfgang Herbert, der Intendant des Nationaltheaters in Mannheim, der Schillers „Räuber“ zum ersten Mal aufführen ließ. Diese Katholiken entsprachen alle nicht dem Ideal des 19. Jahrhunderts mit seinem Kulturkampfkatholizismus. Doch in ihrem Kreis verdient auch Landgraf Friedrich II. eine Neubewertung. Trotz des sehr lebhaften Hoflebens Friedrichs II. von Hessen-Kassel blieb der Landgraf bis an sein Lebensende ein einsamer Mensch. Die Assekurationsakte als Folge grundlegenden Misstrauens ihm gegenüber isolierte ihn, nicht zuletzt von seiner Familie und Verwandtschaft. Er erlebte Bespitzelung und Verrat, immer wieder Missbrauch seines Vertrauens, den Betrug der Lotto-Affaire, den Münzdiebstahl seines Vertrauten R. E. Raspe, die Betrügereien seiner zweiten Gemahlin Prinzessin Philippine
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