Der Leitaufsatz zum Umschlagbild 3
auch die Diskriminierung der Frauen. Der
Waffenstillstand von Compiègne beendete am
11. November 1918 den ersten Weltkrieg. Bereits
am 9. November hatte Philipp Scheidemann
die Republik ausgerufen.
Dies ist die Stunde der Frauen
Noch im November 1918 verkünden die provisorischen
Regierungen in Deutschland und
Österreich das allgemeine Wahlrecht, auch für
Frauen. Im Reichsgesetzblatt vom 12. November
1918 wird veröffentlicht: „Alle Wahlen zu
öffentlichen Körperschaften sind fortan nach
dem gleichen, geheimen, direkten, allgemeinen
Wahlrecht auf Grund des proportionalen
Wahlsystems für alle mindestens 20 Jahre alten
männlichen und weiblichen Personen zu
vollziehen.“ Zwar gab es das Frauenwahlrecht
in einigen Ländern schon vorher, trotzdem
waren Deutschland und Österreich Vorreiter
für die Industrieländer Europas.
Die Revolution brachte also den Frauen
das Wahlrecht. In anderen Ländern dauerte
es deutlich länger: Neuseeland (1893), Finnland
(1906), Norwegen (1913), Dänemark und
Island (1915), Sowjetunion (1917), Kanada,
USA (1920), Schweden (1921), Großbritannien
(1928), Spanien (1931), Frankreich (1944),
Belgien (1948), Griechenland (1952), Schweiz
(1971, der Kanton Appenzell erst 1990), Lichtenstein
(1984).
Sofort begannen die Parteien mit dem Wahlkampf
und der Werbung um die Stimmen,
erstmals auch der Frauen. Die Wahl zur verfassungsgebenden
Nationalversammlung war
bereits für den 19. Januar 1919 festgelegt.
Am Wahltag bildeten sich lange Schlangen
vor den Wahllokalen. Die Wahlbeteiligung der
Frauen betrug fast 90 Prozent. Von den insgesamt
423 Abgeordneten, die in die Nationalversammlung
gewählt wurden, waren 37
Frauen, ein Anteil von 8 Prozent. Die einzige
hessische Kandidatin, Elisabeth Consbruch aus
Kassel von der DNVP, wurde nicht gewählt.
Eine der 37 Frauen in der Weimarer
Nationalversammlung war Marie Juchacz
(1879-1956)
Am 19. Februar 1919 hielt sie die erste Rede
einer Frau vor diesem deutschen Parlament.
Es war ein Mittwoch, an dem die neu gewählte
Nationalversammlung im Deutschen
Nationaltheater in Weimar zusammentrat und
eine Premiere erlebte: „Ich erteile das Wort der
Frau Abgeordneten Juchacz.“ Diese bedeutenden
Worte sprach der Präsident der Weimarer
Nationalversammlung, Constantin Fehrenbach,
gelassen aus und kündigte damit einen
neuen Redebeitrag an. Schon der Beginn der
Rede sorgte für „Heiterkeit“, wie das Protokoll
vermerkt: „Meine Herren und Damen!“, sagte
Marie Juchacz, und das muss ungewöhnlich
geklungen haben an diesem 19. Februar
1919. „Es ist das erste Mal, dass eine Frau
als Freie und Gleiche im Parlament zum Volke
sprechen darf, und ich möchte hier feststellen,
ganz objektiv, dass es die Revolution gewesen
ist, die auch in Deutschland die alten Vorurteile
überwunden hat. Ich möchte hier feststellen,
und glaube damit im Einverständnis
vieler zu sprechen, dass wir deutschen Frauen
dieser Regierung nicht etwa in dem althergebrachten
Sinne Dank schuldig sind. Was diese
Regierung getan hat, das war eine Selbstverständlichkeit:
sie hat den Frauen gegeben,
was ihnen bis dahin zu Unrecht vorenthalten
worden ist.“ Und weiter führte sie aus: „Kein
Punkt des Regierungsprogramms ist da, an
dem wir sozialdemokratischen Frauen kein
Interesse hätten.“
Neben ihrer politischen Arbeit gründete die
Sozialdemokratin 1919 die Arbeiterwohlfahrt.
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