ihn auf neue Wege. Ein epochaler Schritt war im August 1670 die Gründung des "Colle-gium pietatis", ein Gesprächskreis zur gegen-seitigen Unterstützung und Ermutigung in einem christlichen Leben. In der lutherischen Kirche waren bis dahin außergottesdienstli-che Versammlungen nicht nur unüblich, sondern geradezu verpönt. Als skandalös empfand man, dass in den Collegia pietatis soziale und gesellschaftliche Schranken auf-gebrochen wurden: Menschen aus allen Ge-sellschaftsschichten und unterschiedlichen Konfessionen kamen hier zusammen, sogar Frauen durften daran teilnehmen, einige Teilnehmer begannen, einander zu duzen. Spener berief sich auf Luthers Lehre vom Allgemeinen Priestertum aller Getauften. Gerade die erweckten Gemeindeglieder und ihr gutes Vorbild waren für den Frankfurter Senior als "ecclesiola in ecclesia" das wichtigste Potential für eine Erneuerung der gesamten Gemeinde.
Ein weiterer Schritt von enormer Auswirkung war die Neuentdeckung der Bibel. In der lutherischen Orthodoxie stand Luthers Kate-chismus im Mittelpunkt der Frömmigkeit, außer den Theologen nahmen die meisten Menschen aus der Bibel nur die sonntägli-chen Lesungen und die Psalmen zur Kenn-tnis. Nun kam in den Frankfurter Collegia pietatis die ganze Bibel in den Blick, und Laien durften sich im Gespräch an der Ausle-gung der Heiligen Schrift beteiligen.
Im Jahr 1675 fasste Spener diese und andere Reformideen in einer kleinen Schrift zusam-men: "Pia Desideria Oder Hertzliches Ver-langen Nach Gottgefälliger besserung der wahren Evangelischen Kirchen"4. Darin be-schrieb er ungeschminkt den desolaten Zu-stand der Kirche, gab aber auch einer von der Bibel her begründeten "Hoffnung besserer Zeiten" für die Kirche Ausdruck. Mit seiner innergeschichtlichen Zukunftshoffnung griff Spener Elemente des im Luthertum an den Rand gedrängten Chiliasmus auf. Sechs Re-formmittel schlug er nun vor: das Wort Got-tes "reichlicher unter uns zu bringen" (auch in eigenständigen Erbauungsversammlungen), das Allgemeine Priestertum wieder zu praktizieren, mehr praktische Nächstenliebe zu üben, theologische Streitigkeiten einzu-schränken, das Theologiestudium zu refor-mieren und die Predigten mehr auf die Stär-kung des Glaubenslebens auszurichten. Mit seinem Reformprogramm gab Spener das öffentliche Startsignal zum Beginn des Pie-tismus, der bedeutendsten kirchlichen Re-formbewegung seit der Reformation. Er sel-ber rückte mit einem Schlag in den Mittel-punkt der Diskussion und baute zahlreiche Kontakte auf, nicht nur zu Pfarrern und Uni-versitätstheologen, sondern beispielsweise auch zu einer Reihe von adligen Höfen im hessischen Umland Frankfurts. Spener konnte die Früchte seiner Gemeinde-aufbauarbeit in Frankfurt nicht genießen: Die Reformbewegung zerbrach, als eine Gruppe

 

Portrait Philipp Jakob Speners