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führen. Damit erfaßt er bis auf geringe Ausnahmen alle schulpflichtigen Kinder der Kasseler Synagogengemeinde, zu denen noch die von auswärts eintretenden Seminaraspiranten hinzukommen.

Aber diese Blütezeit der Schule währt nicht lange. Schon zwei Jahre später beginnen die Klagen des Vorsteheramtes über abnehmende Frequenzen. Bis 1837 sinkt die Schülerzahl auf 42 herab; von 77 schulpflichtigen 6-14 jährigen besuchen schon wieder 35 private oder christliche Schulen. Zahlten 1827 noch 36 Kinder volles und 16 halbes Schulgeld, so sind es zehn Jahre später nur noch 11 bis 12; 1840 zählt die Schule noch 25 Knaben in zwei Klassen, 1852 kommen zu 18 Jungen 41 Mädchen einer aufgelösten Privatschule, 1855 die des neueröffneten israelitischen Waisenhauses hinzu; abwechselnd ein- oder zweiklassig oder stundenweise kombiniert, beschult sie 1865 noch 31 Kinder; 19 davon sind Zöglinge des Waisenhauses.10) Die Ursachen dieses Verfalls deckt Moses Büdinger schon 1828 auf: "Viele israelitische Eltern, besonders wohlhabende und reiche, wähnen mit einer besonderen Zuversicht, daß ihre Kinder einen größeren Werth haben, mehr weltliche Beförderung erhalten würden, wenn sie dieselben in christlichen Schulen mit den Kindern der gebildeteren Stände erziehen und unterrichten lassen", und "weil sie ihre Kinder nicht mit den ärmeren und ungebildeteren in die Schule schicken wollen."11) Zum gleichen Ergebnis kommt eine spätere Stellungnahme des Vorsteheramtes, in der es vermerkt, daß die "in Bezug auf das Volksbedürfniß unvermeidliche Zusammensetzung und Beschaffenheit" öffentlicher Schulen den Erziehungsvorstellungen "der meisten Wohlhabenden Aeltern wenig entspricht."12) Dabei kommt ihnen entgegen, daß die Stadt Kassel 1832 eine Gewerbeschule und nach einigen Vorstufen 1843 eine "Rea1- und Bürgerschule" einrichtet, die Jungen vom 6. bis zum vollendeten 15. bis 16. Lebensjahr "eine solche allgemeine Bildung (bietet), die zum Eintritt in höhere bürgerliche Lebensverhältnisse, für welche Gymnasialbildung nicht nöthig ist" vorbereitet.13) Sie entspricht den Interessen und Bedürfnissen der Juden besonders, weil das bis dahin allein weiterführende staatliche Friedrichsgymnasium ihnen insofern geringe Aufstiegschancen (Arzt und Advokat) eröffnet, als es vorwiegend auf kirchliche und staatliche Laufbahnen vorbereitet, zu denen sie keinen Zugang haben. So finden sich "bereits in den vierziger Jahren die Söhne der vermögenden israelitischen Eltern ... auf den Bänken der städtischen höheren Lehranstalten. Der israelitischen Schule verbleiben nur die Kinder der ärmeren. Volksklassen sowie die Zöglinge des israelitischen Waisenhauses."14)

Religiöse Motive, die einmal zur Gründung der Schule geführt hatten, treten hier zurück zugunsten des Aufstiegs in der bürgerlichen Gesellschaft, der verbunden ist mit einer sozialen Separierung. Daran ändert sich auch in den nächsten Jahrzehnten nichts; im Gegenteil, diese Tendenz setzt sich auch in weniger bemittelte Schichten hinein fort, so daß der die Schule im Jahre 1868 visitierende Oberschulinspektor anmerkt: "Gemeindevorsteher und Landrabbiner haben viel Interesse für die Schule, die Eltern nicht ... sobald es sich zeigt, daß Kinder etwas bessere Fähigkeiten besitzen, so scheuen die Eltern die Ausgabe nicht und schicken jene in eine andere Schule." Und er fügt abschließend hinzu: "So ist die israelitische Schule im ganzen nur eine Waisenhausschule mit einem Anhang von Freischülern."15) Dem Seminar aber dient sie weiterhin als Übungsschule, in der die Seminaristen ihre ersten Gehversuche unternehmen.

 

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