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Märchen und Volkslieder. Das Volk hält das, was wirklich etwas innerlich bedeutet und einfach ist, in treuem Gedächtnis fest, liest auch: aber nicht in gedruckten Büchern, sondern ohne Umweg über die toten Buchstaben vom Munde des lebendigen Erzählers, der sich in seiner Mitte immer noch zu finden pflegt und der nicht bloß erzählt, sondern je nach den Umständen seiner Geschichte auch agiert: Kriegsabenteuer oder Schwänke und Schnurren oder etwas aus den alten Zuständen und Schicksalen des Dorfes oder einzelner Persönlichkeiten unter den Dorfgenossen, oder der Nachbardörfer, ganz besonders auch Gespenstergeschichten, für die das Interesse unverändert stark bleibt bei jung und alt. Und wie der verständige Leser ein wirklich gutes Buch nicht müde wird wieder zu lesen, so hängen diese Menschen andächtig an Mienen und Mund des dörflichen Erzählers, ob er gleich zum so und sovielten Male seine Geschichte zum Besten gibt. Geändert hat der daran nie. Man würde ihm das auch übelnehmen, man will die Sachen unverändert hören: wer ändert, ausschmückt, zusetzt oder wegläßt, ist dem Volke kein Erzähler, kein lebendiges Buch mehr, es hält das Verändern der Geschichte für einen Verstoß gegen die Ehrlichkeit und Wahrheit und würde alles Interesse an der Person und seinen Erlebnissen verlieren. Mangel an Phantasie steckt dahinter nicht, sondern nichts als Respekt vor der Wahrheit. Kirmes und Kindtaufe und Schlachtekohl oder wenn Sohn oder Tochter aus dem Hause scheidet — die Feste also bringen (neben der Spinnstube) die lebendige Lektüre, den Erzähler, zur Geltung; er muß dann vor. Bei Sterbefällen im Hause nimmt wohl auch vor den Verwandten und Freunden das Familienhaupt selber das Wort und erzählt aus der Vergangenheit des Verstorbenen und der Ahnen mit einer Schlichtheit und Kraft und Lebendigkeit, die etwas Erschütterndes hat, in kurzen Sätzen und ganz unvergleichlich schön. Bei Wiederholungen blieb das Gefüge und Gepräge des Erzählten sich gleich, gleich auch der Ausdruck, „und da erkannte ich dann immer mehr das Große in der Bauernseele, daß diese Menschen geartet sind, wie die

 

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