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Dennoch wiederholt sieb die ganze Prozedur noch einmal in den sechziger Jahren. Die Klage des Vorsteheramtes, daß in Niederhessen Stellen unbesetzt bleiben, weil die Absolventen des Kasseler Seminars, die allein auf Kosten der niederhessiscben Provinzialkassen ausgebildet worden seien, in die anderen Provinzen abwanderten, findet Gehör beim Minister des Innern. Am 12.12.1862 beauftragt er die Regierung der Provinz Niederhessen, "einen speziellen Plan bezüglich der Erweiterung und Einrichtung des hiesigen israelitischen Provinzial-Schullehrerseminars zu einem Landesseminar - wobei die Aufbringung der erforderlichen Geldmittel durch sämmtliche Synagogengemeinden des Landes, nötigenfalls nach Maßgabe eines desfalls noch zu erlassenden Gesetzes, zu Grunde zu legen ist - auszuarbeiten und berichtlich einzureichen."23)

Die zu Gutachten aufgeforderten Vorsteherämter der Provinzen Marburg, Fulda und Hanau lehnen eine zentrale Lehrerbildungsanstalt wiederum einhellig ab. Den bekannten Motiven fügt der Provinzialrabbiner in Fulda eines hinzu, das zwar schon früher angeklungen, aber noch nie so deutlich ausgesprochen wurde: Das Vorsteheramt zu Cassel sei "nicht die dafür geeignete leitende Behörde", denn "die religiösen Verhältnisse der israelitischen Gemeinde sowie die persönlichen der Mitglieder des Provinzial-Vorsteheramtes seien seines Ermessens der Art, daß die übrigen Provinzen sich auf das Entschiedenste dagegen verwahren müßten, irgendwelchen Einfluß auf ihre religiösen Interessen ausgeübt zu sehen." Die Regierung in Kassel läßt zwar vom Vorsteheramt noch einen ausführlichen Plan für ein zentrales Seminar ausarbeiten und legt ihn am 5. Februar 1864 mit einigen Änderungen dem Ministerium vor, bemerkt dazu aber, daß er von den anderen Vorsteherämtern "nicht besonders günstig aufgenommen worden ist", und sie fügt hinzu: "Wollte man die Ausführung des fraglichen Projektes von der vorgängigen Zustimmung desselben abhängig machen, so ist ein Zustandekommen der Sache schwerlich zu erwarten." Die Reaktion des Ministeriums ist in den Akten nicht zu finden. Die Angelegenheit verläuft im Sande. Das angedeutete Gesetz wird nie erlassen.

Den Widerstand der Provinzen Marburg, Hanau und Fulda auf einen Nenner zu bringen, ist nicht leicht. Sicher spielen die Finanzen eine Rolle, aber mindestens so stark wirkt sich die Abneigung gegen die in Kassel vorherrschende religiöse Richtung aus. Die Nuancen der Glaubensunterschiede können hier nicht erörtert werden; in der Schulfrage aber lassen sie sich auf zwei Grundpositionen reduzieren. Das niederhessische Provinzial-Vorsteheramt unter der Federführung von Jakob Pinhas vertritt die Auffassung, daß israelitische Kinder in israelitische Schulen gehören, die übrigen Vorsteherämter befürworten die gemeinsame Erziehung israelitischer und christlicher Kinder in einer öffentlichen Schule, in der Lehrer beider Konfessionen unterrichten. Folglich plädiert Kassel für eine eigenständige, die andere Gruppe für eine gemeinsame Lehrerausbildung mit getrenntem Religionsunterricht in bestehenden christlichen Seminaren. Es mag merkwürdig erscheinen, daß das Ministerium keinen Zwang auf die widerspenstigen Provinzen ausübt; aber dazu fehlt eben die gesetzliche Grundlage, die zu schaffen der Staat vermutlich bewußt scheut, weil er in Religionsangelegenheiten nicht eingreifen will. Hat er in der Verordnung von 1823 die Form der Lehrerbildung schon ausgespart, so verlangt er auch in dem zehn Jahre später verkündeten "Gesetz zur gleichförmigen Ordnung der besonderen Verhältnisse der Israeliten" vom 29. Oktober 1833 erneut nur, daß "Bewerber um blose Lehrerstellen an israelitischen Schulen durch besondere, von Unserm Ministerium zu bestellende Prüfungskommissionen" für geeignet befunden werden müssen.24) Bei dieser Offenheit des Ausbildungsweges kann das

 

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