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Rainer Polley

DIE ANREDE "HERR" - VOM PRÄDIKAT ZUR SELBSTVERSTÄNDLICHKEIT

 

Vor dem Familiennamen mit "Herr" oder "Frau" (das meint "Herrin") angesprochen und angeschrieben zu werden, ist nicht nur im gesellschaftlichen Verkehr unter den Bürgern unserer Zeit üblich. Wir betrachten es als eine Selbstverständlichkeit, daß sich auch der Staat im amtlichen Verkehr mit dem Bürger- und zwar mit jedem Bürger- dieser Höflichkeit befleißigt. Nach der Begründung fragt heute keiner mehr, obwohl der Sinnzusammenhang der Anredeform "Herr" mit dem Sachbegriff "Herrschaft" zu denken gibt. Ist der Bürger im Rahmen einer auf Freiheit und Gleichheit beruhenden Demokratie zum "Herrn" als Mitträger der Volksherrschaft geworden? Oder hat sich der Bezug zur "Herrschaft" im Laufe derzeit so abgeschliffen, daß die Anredeform für jeden normalen Bürger frei wurde? Einigen Aufschluß darüber vermittelt eine Begebenheit im Fürstentum Waldeck vor etwa 150 Jahren, in einer Zeit, in der der Bürger oder besser Untertan noch um die heute so selbstverständliche Anrede "Herr" kämpfen mußte (vgl. StA Marburg, Best. 121 Nr. 297).

Ein Simon Wittgenstein betrieb mit seinem Bruder in Korbach ein Wollgeschäft, das man wegen seiner weiten, ja europäischen Beziehungen schon als ein Großhandelsgeschäft ansprechen konnte. Für eine Reise zu den Wollmärkten in Sachsen und Preußen beantragte Wittgenstein im Frühjahr 1839 bei der Regierung des Fürstentums Waldeck zu Arolsen einen Paß und fügte die Bitte hinzu, daß er, Wittgenstein, in dem Dokument mit dem Prädikat "Herr" erscheine. Er könne im Ausland nur geschäftlichen Erfolg haben, wenn er imstande sei, sich seinen Geschäftspartnern gegenüber auch als geachteter Kaufmann auszuweisen. Die Regierung stellte am 23. Mai 1839 den Paß aus, sah jedoch davon ab, Wittgenstein an irgendeiner Stelle des Ausweises mit "Herr" anzusprechen. Dieser sandte daraufhin den gegen Verwaltungskosten erworbenen Paß mit der Bemerkung zurück, daß er davon keinen Gebrauch machen könne und die Ungleichheit bedauern müsse, mit welcher die Waldeckischen Unterthanen von ihrer Regierung behandelt werden im Verhältniß zu den höflichem Formen, welche fast in allen andern Staaten üblich sind. Die Waldeckische Regierung erteilte daraufhin dem Kaufmann unter dem 2. Juni 1839 folgenden vom Regierungsdirektor Christian Varnhagen unterschriebenen Bescheid:

Der Kaufmann Simon Wittgenstein wird mit seinem ungehörigen Verlangen wegen Beilegung des Prädicats "Herr" hiermit zurückgewiesen; und wie demselben der remittirte Regierungspaß hierneben zurückgeht, so wird ihm auch sein bei diesem Anlaß bewiesenes respectwidriges und unschickliches Benehmen nicht nur nachdrücklich hierdurch verwiesen, sondern er auch vor ähnlicher Ungebühr für die Zukunft unter Androhung empfindlicher Strafe gewahrschauet.

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