Traditionsstiftung und Erinnerungspolitik. Geschichtsschreibung
in Hessen in der Frühen Neuzeit
Thomas Fuchs
Sehr geehrte Damen und Herren,
Ganz Grundsätzlich dreht sich die Arbeit nur um eine Frage:
Was ist Hessen? Aus der historischen Perspektive der Kulturwissenschaften
ist Hessen ein Konstrukt, eine intellektuelle Imagination, ein Bild.
Es ist nicht, sondern es ist gemacht worden. Darum geht es in dem
Buch: wie Hessen hergestellt und wie diese Imagination genutzt wurde,
und zwar von den politischen Eliten: den Landgrafen und den weiteren
Herrschaftsträgern dessen, was in einem herrschaftlichen Sinne
als Hessen bezeichnet wurde. Der Herrschaftsbegriff Hessen stand
vor allen anderen Dingen, die damit bezeichnet wurden und werden.
Hessen war das Ergebnis politisches Wollens und Handelns, es war
ein Herrschaftsprodukt. Es wurde vor allem durch Geschichtsschreibung
historisch hergestellt: als Idee des Hessenlandes.
Geschichtsschreibung in der frühen Neuzeit war zunächst
ein Herrschaftsrecht, Ausdruck realer oder imaginierter politischer
Macht, deren realer Stellenwert zwar nur schwer zu messen ist, aber
durchaus vorhanden war, und wenn sie nur der Begründung von
Ansprüchen diente. Geschichtsschreibung wurde massiv von den
Obrigkeiten gefördert und beeinflußt, denn es gab ihnen
und der Bevölkerung Identifikationsmöglichkeiten sowie
Argumente in verschiedensten Auseinandersetzungen in einer Epoche,
in der Recht über Macht und Tradition definiert wurde.
Geschichtsschreibung stellte in der frühen Neuzeit den Herrschaftsträgern
und der Bevölkerung eine „fundierende Erzählung“
von Staat, Gesellschaft und Dynastie bereit, die einem Wechselspiel
von Konstruktion und Dekonstruktion unterworfen war. Neben ´materiellen´
Faktoren wie dem Dreißigjährigen Krieg waren diese Transformationsprozesse
von allgemeinen ideengeschichtlichen Veränderungen geprägt.
Es handelte sich für unser Thema um drei allgemeine Wissensbrüche
in der frühen Neuzeit, die konstitutiv für die historiographische
´memoria´ waren: 1. Humanismus/Reformation; 2. Frühaufklärung
um 1700; 3. Spätaufklärung/Historismus seit den 1760er
Jahren.
Im Zusammenhang mit diesen Wissensbrüchen steht jeweils die
inhaltliche und wissenstechnische Neuformulierung des Geschichtsbildes
als eine ´fundierende Erzählung´. Diese neuformulierten
Geschichtsbilder wurden wiederum zu Traditionen verdichtet, bevor
in Krisensituationen das Paradigma dekonstruiert wurde. Eine solche
Krisensituation entstand z.B. für das protestantische Geschichtsbild
bzw. für die protestantische Geschichtstheologie mit dem Dreißigjährigen
Krieg, in dessen Folge das konfessionelle Bewußtsein diskreditiert
worden ist.
Die oben skizzierten drei Wissens- und Traditionsbrüche gliedern
die Arbeit. Auf der Grundlage der spätmittelalterlichen hessischen
Chroniken, die von Humanismus und Reformation unberührt waren,
wird die Neuformulierung eines nun reformatorischen Geschichtsbildes
dargestellt. Die Historiker schufen eine „fundierende Erzählung“
einer germanischen Volksnation, hier die Chatten, die in einem ethnisch
definierten Raum, dem ehemaligen Siedlungsgebiet der Chatten, von
den Landgrafen, die als Chattenfürsten bezeichnet werden, regiert
werden. Diese neue fundierende Erzählung ist breit rezipiert
worden und hat sowohl das alte kirchlich-heilsgeschichtliche Bild
von der Geschichte mit dem Identifikationsmittelpunkt der heiligen
Elisabeth als auch damit konkurrierende Geschichtsbilder verdrängt.
Bis zum Ende des 16. Jahrhunderts ist diese im 16. Jahrhundert formulierte
Imagination von hessischer Geschichte in verschiedenen Textsorten
(Panegyrik, Casuallyrik, Historiographie, Predigten) zur emphatischen
Tradition verdichtet worden, indem die Landgrafen dieses Geschichtsbild
aktiv förderten.
Der Bedeutungsverlust der älteren Chronistik, ihr verlorengegangener
Wahrheitsanspruch, korrespondierte mit einer Neuformulierung der
Geschichtsschreibung in der Landgrafschaft Hessen seit dem frühen
16. Jahrhundert. Die Geschichtsschreibung, an ihrem Anfang stehen
Johannes Nuhn und Wigand Gerstenberg, ging durch verschiedene Transformationsphasen,
in deren Folge das Geschichtsbild, d.h. die Imagination einer spezifisch
hessischen Vergangenheit, auf der Basis bestimmter theoretischer
und methodischer Implikationen neu geschrieben wurde. Für diese
Wissenstraditionen und ihre Brüche stehen exemplarische Werke.
Waren die Chroniken Nuhns und Gerstenbergs, unberührt vom Humanismus,
vollkommen der Tradition der kirchlichen Heilsgeschichte verpflichtet,
so steht für die Epoche der humanistisch-reformatorischen Geschichtsschreibung
paradigmatisch die hessische Chronik Wigand Lauzes. Lauzes Werk
steht für die Formulierung eines reformatorischen Geschichtsbildes
in Hessen, das den Landgrafen und ihrem Territorium eine Vergangenheit
gab, in der nicht mehr die Geschichte des Heils im Vordergrund stand,
sondern die germanische Vergangenheit der Landgrafen und der Bevölkerung.
Die Rückkehr zur germanisch-lutherischen Urreligion und die
Konstruktion eines hessischen Nationalvolkes verschmolzen in der
hessischen Historiographie des 16. und 17. Jahrhunderts zu einer
zentralen positiven Erinnerungsfigur des nationalen und individuellen
Heils. Dies ist nach Lauze die positiv-teleologische Bestimmung
der Geschichte der Chatten und Hessen. Die Geschichte läuft
somit geistlich und weltlich auf das Regiment Landgraf Philipps
hinaus, der einerseits die germanisch-lutherische Urreligion in
Hessen restituierte, andererseits das hessische Volk regiert.
Die Ansprüche des Mythos manifestieren sich in der hessischen
Landgrafschaft des 16. Jahrhunderts. Die mythischen Konzepte, errichtet
als normative Referenzhorizonte, hatten die Herrschaftslegitimierung
durch die hl. Elisabeth nicht nur verdrängt, sondern erschufen
einerseits ein einheitliches ´Staatsvolk´ unter einer
idealen Herrschaft der lutherischen Landgrafen, andererseits einen
Herrschaftsanspruch, der weit über das eigentliche Territorium
der Landgrafschaft hinaus reichte und auf absolutistisch-zentralistische
Herrschaftslegitimierungen vorauswies.
Ihren monumentalen Ausdruck fand diese Geschichtskonzeption in
der „Gründlichen und wahrhaften Beschreibung der Fürstentümer
Hessen und Hersfeld“ des Johann Just Winckelmann, erschienen
in den neunziger Jahren des 17. Jahrhunderts. In diesem Werk kulminierte
die obrigkeitliche Einflußnahme auf die Geschichtsschreibung.
Schon die ihm vorausgegangenen Historiker hatten in Beamtenpositionen
die Geschichte der Dynastie verherrlicht, dies gilt für Wigand
Lauze ebenso wie für Wilhelm Dillich. Winckelmann wurde von
Kassel und Darmstadt besoldet, den Druck bezahlte Karl I. und fast
die gesamte Auflage gelangte nach Kassel, von wo aus sie vertrieben
wurde.
Winckelmanns Werk steht aber nicht nur für eine offensive
Geschichtspolitik der Landgrafen zur Verherrlichung von Land und
Dynastie, sondern auch für das Scheitern der humanistisch-barocken
Geschichtsschreibung in Auseinandersetzung mit frühaufklärerischen
Wissenstechniken. Winckelmann arbeitete seit 1648 im Auftrag der
Darmstädter Landgrafen an seiner Beschreibung und Geschichte
Hessens. Wenige Jahre später beteiligten sich die Kasseler
Verwandten an dem Werk und übernahmen schließlich die
Führung bei diesem Unternehmen. Es dauerte fast 50 Jahre, bis
zumindest die ersten fünf von sechs geplanten Teilen erscheinen
konnten. 1686 tagte mehrere Monate eine Zensurkommission aus sechs
Mitgliedern, je drei Professoren aus Marburg und Gießen, die
die Chronik Winckelmanns im Sinne der Landgrafen grundlegend überarbeiteten.
Während dieser Zensur prallten die traditionale Geschichtskonzeption
Winckelmanns und die von frühaufklärerischen Wissensstandards
geprägten Ansichten der Zensoren unversöhnlich aufeinander.
Im Prinzip sprachen die um einiges jüngeren Zensoren nicht
mehr die humanistisch-barocke Sprache Winckelmanns.
Mit dem Eindringen frühaufklärerischen Gedankengutes
ist dieses Geschichtsbild einer protestantischen Geschichtstradition
wiederum verworfen und nun durch ein unter frühaufklärerischen
Wissensforderungen neu zu schreibende Geschichte ersetzt worden.
Leitbegriffe der Formulierung des neuen Paradigmas waren: Kritik,
Urkundenforschung, Pragmatik. Geschichte durfte nun nicht mehr einfach
nur als Kompilation und Glossierung der protestantischen Geschichtstradition
geschrieben werden, sondern mußte idealtypisch immer wieder
neu an den unmittelbaren Quellen verfaßt werden. Dies schien
eine höhere Wahrhaftigkeit als die nun als unwissenschaftlich
diffamierte traditionale Chronistik zu sichern.
Der Neuaufbau des Erinnerungsgebäudes mit den Methoden- und
Wissensstandards der frühen Aufklärung war das Werk einer
Gruppe von Historikern, von Karl Ludwig Tollner über Christoph
Friedrich Ayermann bis Johann Hermann Schmincke, die die immer komplexer
werdende Wirklichkeit nicht mehr mit der traditionalen humanistisch-barocken
Wissenskultur in Übereinstimmung bringen konnten. Sie stehen
für die anbrechende Moderne, in der sich der Mensch nicht mehr
in einem unablässigen Strom der Zeit verorten kann, in dem
Anfang und Ende bekannt sind, sondern sich immer wieder seinen Ort
in der Aktualität und im Referenzhorizont der Gegenwart neu
bestimmen muß.
Diese Geschichtsschreibung entwickelte sich zu einer spezifisch
aufklärerischen Geschichtsschreibung weiter, deren Beginn insbesondere
mit Johann Hermann Schmincke verbunden ist und bis zu Georg Friedrich
Teuthorns elfbändiger „Geschichte der Hessen“ reicht.
Die aufgeklärte Geschichtsschreibung entwickelte sich im Laufe
des 18. Jahrhunderts zu einer hochaufgeklärten Geschichtsschreibung
französischer Prägung weiter, insbesondere in der Regierungszeit
des frankophilen Landgrafen Friedrich II., der eine französischsprachige
Geschichte Hessens in Auftrag gab. Nach dem Tode Friedrichs II.
(1785) wurde Kassel von den Trägern französischer Kultur
´gesäubert´, und es kam nun eine allgemein im Reich
zu beobachtende Nationalisierung des Geschichtsbildes zum Durchbruch.
Nun wurde auch in Hessen die deutsche Nation imaginiert, in der
die Hessen einen Teil ausmachten.
Mit Helferich Bernhard Wencks „Hessischer Landesgeschichte“
und Christoph von Rommels großartiger Synthese der hessischen
Geschichte war auch in Hessen die Epoche des Historismus zum Durchbruch
gelangt. In dieser Phase emanzipierte sich das Geschichtsbild des
gebildeten Bürgers von der Geschichtspolitik der Landgrafen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit
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