Historiker haben sich mehrfach dem Thema „Kirchenzucht"
in der frühen Neuzeit gewidmet. Das in den Kirchenordnungen
der frühen Neuzeit postulierte Ideal eines christlichen Lebenswandels
galt aber fast unverändert bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts.
Es war also an der Zeit, es einmal an der Wirklichkeit des kirchlichen
Lebens in der späten Neuzeit zu überprüfen. Dies
hat Lüdicke anhand der vom Deiseler Presbyterium behandelten
Normverstöße getan. Dabei hat sie neben der kirchlichen
auch die kommunale Ebene als Normgeber in den Blick genommen.
Nach einleitender Darstellung der Lebensverhältnisse in Deisel
und der hessischen Kirchenzuchtnormen untersucht sie die Zusammensetzung
und Tätigkeit des Deiseler Presbyteriums und seine Kirchenzuchtpraxis
und analysiert dann mit sozialstatistischem Instrumentarium, unterstützt
durch anschauliche Tabellen und Grafiken, die Verstöße
gegen das christliche Ideal der Ehe (vor- und außereheliche
Sexualität), gegen das christliche Ideal der Mäßigkeit
(Trunksucht) und gegen die Normen des äußeren religiösen
Lebens.
Es gelingt der Autorin, Kirchenzuchtpraxis und Alltagsleben in
Deisel als wandelbare Größen darzustellen, beeinflußt
von sich verändernden Normerwartungen der Pfarrer und Presbyterien
(z.B. in Folge der Mäßigkeitsbewegung und der restaurativen
Einflüsse des Neuluthertums), von ökonomischen Krisen
(Pauperismus), sozialem Wandel (wachsende Mobilität) und rechtlichen
Neuerungen (Erschwerung der Eheschließung). Sie zeigt, wie
sittliche und religiöse Vorgaben der Kirche und dörfliche
gesellschaftliche Realität auseinander traten und die dörflichen
Verhaltenserwartungen sich gegenüber den kirchlichen durch
setzten, selbst in der Amtsführung der Presbyter.
Diese volkskundliche und sozialgeschichtliche Arbeit wird als
einzigartige Pionierarbeit weit über Deisel hinaus gelesen
und diskutiert werden.
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