Konzeption der Tagung
Es war die Absicht der von Prof. Dr. Ursula Braasch-Schwersmann
und Dr. Wolfgang Breul angeregten und vorbereiteten Nachwuchstagung,
unterschiedliche Felder der hessischen Geschichte und Landeskunde
miteinander ins Gespräch zu bringen. Zugleich sollte eine Brücke
zwischen der aktuellen historischen Forschung zum hessischen Raum
und dem Verein und seinen Mitgliedern geschlagen werden. Beides
ist über Erwarten gut gelungen.
Insgesamt dreizehn Referenten und Referentinnen stellten sich in
fünf Sektionen mit ihren wissenschaftlichen Projekten der Diskussion,
die von vier Betreuern geleitet wurde. Kirchengeschichte, mittelalterliche
und frühneuzeitliche Geschichte, Kunstgeschichte, Zeitgeschichte
und Europäische Ethnologie boten ein breites Spektrum an Themen.
Gleichwohl waren damit nicht alle Felder und alle Lehrstühle,
an denen sich NachwuchsforscherInnen mit hessischer Landesgeschichte
beschäftigen, vertreten. So konnten diesmal beispielsweise
Germanistik (Sprachatlas), Musikgeschichte, Archäologie in
dem bewußt eng gehaltenen zeitlichen Rahmen der Tagung nicht
berücksichtigt werden. Sie sollen einer etwaigen Folgeveranstaltung
vorbehalten bleiben.
Kirchengeschichte
Die von Dr. Wolfgang Breul für den erkrankten Prof. Dr. Hans
Schneider geleitete Sektion der Kirchengeschichte beschäftigte
sich mit zwei spätmittelalterlichen Themen. Rajah Scheepers
aus Berlin stellte ihre gerade abgeschlossene Dissertation zu Landgräfin
Anna, der Mutter Philipps des Großmütigen, vor. Nach
ihrer von der Frauen- und Geschlechtergeschichte inspirierten Arbeit
sah sich die Landgräfin, die sich im Kampf um die Macht nach
dem Tod Landgraf Wilhelms des Mittleren (1509) schließlich
1514 durchsetzte, einer doppelten weiblichen und männlichen
Rollenerwartung konfrontiert, die sie auszutarieren suchte. Burkhard
zur Nieden (Marburg) befaßt sich mit den Bettelorden in Marburg.
Seine Untersuchung neuer Quellen, insbesondere der Rechnungsbücher,
führt zu einem neuen Bild der Marburger Ordensreform um 1500.
Das zu jener Zeit brisante Thema wurde vom Verfasser am Beispiel
des Franziskanerklosters vorgestellt. Die von Landgraf Wilhelm III.
gegen den Widerstand des Konvents durchgesetzte Reform machte aus
dem stadtbürgerlich geprägten Kloster eine landgräfliche
Anstalt.
Geschichte des Spätmittelalters und der Frühen
Neuzeit
Die von Privatdozent Dr. Otto Volk betreute Sektion Geschichte des
Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit blieb in ihrem
ersten Vortrag den fiskalischen Quellen verpflichtet. Stephan Hagenbusch
(Marburg) widmet sich in seinem in den Anfängen stehenden Dissertationsprojekt
dem umfangreichen Quellenbestand der landgräflichen Rechnungen.
Am Beispiel der Grubenhagener Fehde (1461) konnte er vorführen,
wie die Geld- und Sachmittel für diesen militärischen
Konflikt innerhalb der Landgrafschaft aufgebracht wurden, wie also
die materielle Basis des politischen Handelns beschaffen war. Dr.
des. Ullrich Hanke (Marburg) stellte auf der Basis seiner bereits
abgeschlossenen Dissertation die bislang von der Forschung vernachlässigte
hessische Besatzung der Reichsabtei Fulda während des Dreißigjährigen
Kriegs (1631-1633) vor. Sie ergab sich aus einer für die Protestanten
günstigen politischen Großwetterlage. Die auf eine langfristige
Inbesitznahme des alten hessischen Interessengebiets ausgerichtete
moderate Politik des hessischen Landgrafen (bspw. Zurückhaltung
bei Veränderungen Kirchen- und Religionssachen) scheiterte
nach der Niederlage der Protestanten in der Schlacht bei Lützen.
Stephan Schwenkes (Marburg) abgeschlossene Dissertation verglich
die hessischen Garnisonstädte Marburg und Ziegenhain in der
Frühen Neuzeit. Soweit die Quellenlage dies zuließ, nahm
er die Fragestellung der neuen Militärgeschichte auf, die das
Militär in sozialgeschichtlicher Perspektive untersucht. Das
Verhältnis zwischen Stadtbürgern und Soldaten, das unterschiedliche
Heiratsverhalten von Offizieren und Mannschaftsgraden und die unterschiedliche
städtebauliche Entwicklung Marburgs und Ziegenhain waren unter
anderen Gegenstand seines Vortrags. Jochen Ebert, Mitarbeiter an
dem von Prof. Dr. Heide Wunder geleiteten Forschungsprojekt zur
– ca. 10 km nördlich von Kassel gelegenen – Domäne
Frankenhausen und ihrem Umland, stellte wirtschaftliche, soziale
und agrarische Aspekte der Domänenwirtschaft am Beispiel der
Pächterin Katharina Elisabeth Most in der Zeit des Siebenjährigen
Kriegs vor. Kriegsbedingte Pachtrückstände aufgrund von
Requirierung und Ernteausfällen führten die Witwe in Konflikt
mit der landesherrlichen Verwaltung, die schließlich zur Aufgabe
der Pacht führten.
Kunstgeschichte
Dr. Harald Wolter-von dem Knesebeck führte in die beiden Forschungsprojekte
der Kasseler Kunsthochschule ein. Marion Jäckel stellte die
Ergebnisse ihrer Magisterarbeit zum Grabmal Landgraf Philipps des
Großmütigen in der Martinskirche zu Kassel vor, das in
mehrfacher Hinsicht einen Bruch mit der Vergangenheit darstellt:
in der Aufgabe der bis dahin genutzten Grablege des Hauses Brabant
in der Marburger Elisabethkirche, in der Abkehr von der Tumbenform
und schließlich in der Ausführung durch niederländische
Bildhauer. Zum Philippjahr wird die Referentin einen Kunstführer
zu diesem Grabmal veröffentlichen. Petra Werner stellte anhand
eines Gemäldes von Johann Melchior Roos (1728) ihr Dissertationsprojekt
zur Menagerie Landgraf Carls von Hessen-Kassel vor. Das großformatige
Bild idealisiert das in der Karlsaue gelegene Tiergehege des Landgrafen
in einer paradiesartigen Szene. Es soll die Realität der Natur
und ihrer in der Menagerie versammelten Vertreter abbilden und zugleich
überbieten. Die Referentin zog einen Vergleich zu den zeitgenössischen
Kunst- und Wunderkammern und dem dahinter stehenden Wissensideal
einer Rekonstruktion der Welt in einem selbständigen Mikrokosmos.
Neuere und neueste Geschichte und Zeitgeschichte
Die von Prof. Dr. Winfried Speitkamp (Gießen) betreute
Sektion bot fachlich ein ausgesprochen breites Spektrum. Claudia
Klemm (Gießen) wandte die – ursprünglich von der
Alten Geschichte und der mittelalterlichen Geschichte ausgegangene,
inzwischen aber in allen Epochen der Geschichtswissenschaften beheimatete
– Perspektive der Memorialkultur auf ein zeitgeschichtliches
Thema an. Ihr Dissertationsvorhaben fragt danach, welche Gruppen
zu unterschiedlichen Zeiten mit welchen Absichten und Anknüpfungspunkten
an die Revolution von 1848 erinnert haben. Am Beispiel der Frankfurter
Feier 1923 zeichnete sie die politischen und diplomatischen Verwicklungen
auf, die das Revolutionsgedächtnis in diesem Krisenjahr aufwarf.
Kai Naumanns (Frankfurt a.M.) Dissertationsvorhaben widmet sich
der unmittelbar nach Kriegsende von der US-amerikanischen Besatzungsmacht
initiierten Reform des Justizvollzugs im neu entstehenden Bundesland
Hessen. Der Neuansatz, der die Einführung einer Einheitsfreiheitsstrafe,
Hafterleichterung und vor allem eine Resozialisierung mit erhöhtem
Personalaufwand vorsah, konnte auf Reformvorschläge der Weimarer
Zeit zurückgreifen und ließ Hessen trotz einer 1951 erfolgten
Abschwächung der Reform auch in diesem Bereich zu einem Musterland
für die sich in den 1960er und 1970er Jahren durchsetzende
Erneuerung des Strafvollzugs werden. Dr. Holger Zinns (Wiesbaden)
Habilitationsprojekt zur Wirtschaftsgeschichte des Rhein-Main-Gebiets
stellt sich einer enormen Quellenfülle und gewichtiger methodischer
Probleme. Der Referent führte dies an der Entstehungsgeschichte
des Begriffs „Rhein-Main-Gebiet“ und an der –
ungeklärten – Frage nach dessen räumlicher Abgrenzung
vor. Gegenüber den älteren Versuchen einer rein räumlichen
oder nur an Gewerbestandorten orientierten Definition verknüpft
sein Ansatz bei den Pendlerbewegungen räumliche und gewerbliche
Perspektive zu einer Definition, welche der Ausdehnung des Wirtschaftsraums
entspricht. Michael Müllers (Marburg) in Arbeit befindliche
Dissertation widmet sich der Wirtschafts- und Sozialpolitik unter
dem hessischen „Landesvater“ Georg August Zinn. Müller
legte dar, wie die Regierung Zinn auf der Basis der Wirtschaftskraft
des Rhein-Main-Gebiets und einer wirtschaftsfreundlichen Politik
zielstrebig mit einer „Plan-Politik“ (Jugendplan, kleiner
und großer Hessenplan etc.) die Entwicklung des Landes insbesondere
auch im ländlichen Raum förderte und damit zu einem sozialdemokratischen
Musterland und Gegenentwurf zur Adenauerschen Politik entwickelte.
Europäische Ethnologie / Volkskunde
Thomas Schindler (Marburg) stellte die „Marburger
Irdenware“ vor, die Mitte des 19. Jahrhunderts mit ca. 60
Töpferwerkstätten mit ca. 600 Mitarbeitern einen wichtigen
Wirtschaftsfaktor in der Universitätsstadt bildete. Das seit
etwa zwei Jahrzehnten wieder in der Marburger Oberstadt verkaufte
Alltagsgeschirr mit seiner prägnanten Motivik wurde vor 150
Jahren europaweit verkauft; noch heute ist Paris der wichtigste
Umschlagplatz der zur Antiquität gealterten „Marburger
Ware“. Schindler will mit seiner Dissertation die wirtschafts-,
sozial- und technikgeschichtlichen Aspekte der Produktion, ebenso
aber auch die kulturgeschichtliche Seite der Rezeption dieser Töpferware
untersuchen.
Das positive Echo auf die Tagung verdankt sich m.E. mehreren Faktoren.
Zuerst sind hier das hohe Engagement und die fachliche Kompetenz
der Nachwuchswissenschaftler und -wissenschaftlerinnen zu nennen.
Sie haben es verstanden ihre Interessengebiete so interessant darzustellen,
daß das Gespräch im Anschluß ohne Mühe in
Gang kam und oft genug mit Blick auf den Zeitplan abgebrochen werden
mußte. Dazu gehört auch, daß häufig Medien
sinnvoll und gekonnt zur Ergänzung des Vortrags eingesetzt
wurden. Zu den angeregten Gesprächen, die während der
Pausen und Mahlzeiten ihre Fortsetzung fanden, haben wesentlich
das über die Grenzen des eigenen Fachs hinausreichende Interesse
der ReferentInnen und und die rege Beteiligung der Vereinsmitglieder
beigetragen. Die gelassene und kompetente Moderation der Duskussionen
durch die Betreuer tat ein übriges. So ist es in einem nicht
unbedingt zu erwartenden Maße gelungen, einen die Fachgrenzen
überschreitenden Austausch zur hessischen Geschichte und Landeskunde
zu führen, der in zahlreichen Kontakten unter den Vortragenden
und zu den anwesenden Vereinsmitgliedern, die während der Tagung
geknüpft wurden, seine Fortsetzung finden wird. Viele der ReferentInnen,
Betreuer und Vereinsmitglieder haben gegenüber den Veranstaltern
ihren Dank an den Verein für die Ausrichtung der Nachwuchstagung
und ihre Hoffnung auf eine Folgeveranstaltung zum Ausdruck gebracht.
Wolfgang Breul
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