Hexenwahn in Hallenberg und im Frankenberger Land

Heinrich Stoffregen sei ein „Hexer", munkelten die Hesborner Bauern anno 1624. Die wollten doch nur seine Wiesen und Äcker haben, vermutete der Angeschuldigte. Doch was galten schon rationale Erklärungen in der aufgestachelten Zeit des Hexenwahns: Der verheerende Dreißigjährige Krieg tobte, Katholiken und Protestanten gifteten sich an, die mysteriöse Pest brach immer wieder aus, der Aberglaube grassierte – so konnte ein übles Gerücht schnell zur vermeintlichen „Gewissheit" werden: Übte der Nachbar etwa nicht „Schadzauberey" aus? Vergnügte er sich nicht bei nächtlichen Orgien mit „Satansbuhlerinnen" und dem leibhaftigen Teufel?

Auch die Flucht zu seiner Schwester nach Rengershausen half nicht, die üble Nachrede verfolgte ihn weiter. Auf Anraten des Medebacher Richters Knippschild zog er nach Hallenberg, der Heimatstadt seiner Frau. Dort bekam er eine Stelle als städtischer Pförtner, Nachtwächter und Kuhhirte. Doch die Gerüchte gingen weiter – bis die Inquisition am 8. Juli 1628 ein Verfahren gegen Heinrich Stoffregen eröffnete. Nachdem er unter der Folter ein „Geständnis" abgelegt hatte, wurde er am 4. August vom Hallenberger Stadtgericht verurteilt: Er sollte er „zu wolverdienter straffe undt anderen zum abscheulichen exempell mit dem feur vom leben zum tode verbrennen".

 
 
Stadtarchivar Georg Glade hatte mehrere Original-Gerichtsakten mitgebracht, die er gemeinsam mit Ruth Piro-Klein vorstellte. Fotos: Karl Schilling
 

„Mobbing und Rufmord"

Erst „massives Mobbing" in Hesborn, dann die „Rufmord-Kampagne" in Hallenberg, kommentierte Georg Glade – was folgte, konnte Heinrich Stoffregen kaum überleben: das Verfahren wegen „Hexerei". Die „Ausreutung" des „abscheulichen hexenlasters" hatten sich weltliche Gerichte auf Drängen der Kirchen in der frühen Neuzeit vorgenommen – über dieses finstere Kapitel der Rechtsgeschichte referierte der Hallenberger Stadtarchivar Glade beim Frankenberger Geschichtsverein. Sein Archiv hat noch zahlreiche Akten aus dieser Zeit, Glade nannte vier Quellen:

  • Die „Hallenberger Hexenverzeichnisse" für die Jahre 1669 bis 1696 listen die Denunzierten und Auszüge aus Verhören auf. Sie liegen heute im Staatsarchiv in Münster.
  • Elf Prozessakten vom Juli bis Dezember 1628 liegen im Stadtarchiv. Ursprünglich seien es mehr gewesen, berichtete Glade. Doch im 19. Jahrhundert habe ein Archivar alle Akten vernichtet, in denen Namen von in der Stadt lebenden Familien genannt wurden. Er habe wohl vermutet, die Familien könnten ein „Stigma" erhalten, weil Vorfahren der „Hexerei" angeklagt gewesen seien.
  • Die Hallenberger Stadtbücher aus den Jahren 1616 bis 1679 sind chronikhafte Aufzeichnungen, Protokolle und Register des Stadtschreibers.
  • Weitere Hinweise auf Prozesse fänden sich in den verstreuten Aktenbeständen des Archivs.

Glade gab die Zahl der in Europa Ermordeten mit 30 000 bis 45 000 an – es gibt in der Literatur auch weit höhere Schätzungen. Genaue Zahlen gibt es schon deshalb nicht, weil – wie für Hallenberg dokumentiert – nicht alle Akten überliefert sind. In Westfalen seien zwischen 1508 und 1732 nachweislich rund 1140 Menschen angeklagt worden, berichtete Glade, knapp 1000 hätten Haft und Folter nicht überlebt oder seien hingerichtet worden. Für die Ämter Frankenberg, Marburg und Kirchhain nennt der Historiker Christian Roos in seiner 2008 erschienenen Untersuchung 112 Fälle von Verfolgungen der Inquisition.

Der erste Prozess in Hallenberg wegen „Zauberei" habe 1591 stattgefunden, die Angeklagte sei des Landes verwiesen worden, berichtete Glade. 1598 habe es die erste Hinrichtung gegeben. Die Verfahren seien mindestens noch bis 1699 gelaufen, „vielleicht sogar bis 1717". Da war der Wahn im protestantischen Hessen und Waldeck auch auf Druck der Landesherren schon wieder abgeebbt.

 

Folterung einer Hexe nach der „Carolina“

 

Mehr als 200 Hallenberger

Insgesamt seien in der Stadt mehr als 200 Menschen in die Prozesse eingebunden gewesen, „bei rund 100 Familien in Hallenberg gab es wohl kaum eine, die nicht betroffen war". Ein deutlicher Schwerpunkt habe in der Zeit des Dreißigjährige Krieges 1618 bis 1648 gelegen, allein 1628 sei 20 Menschen der Prozess gemacht worden – so wie Heinrich Stoffregen.

Alle Schichten der Gesellschaft habe es treffen können, berichtete Glade – ob eine einfache Magd oder den Bürgermeister: Johannes Conradt floh 1669 aus der Stadt, sein Nachfolger Martin Bange wurde 1671 hingerichtet. Interessanterweise seien in Westfalen zu 40 Prozent Männer angeklagt gewesen, „Hexerei" war also keine reine Frauensache, wie vielfach vermutet wird. Auch Nachbarn seien vorm Hallenberger Gericht angeklagt worden:

  • ein Mann und sechs Frauen aus Bromskirchen,
  • drei Männer aus dem waldeckischen Neukirchen,
  • ein Mann aus Dodenau,
  • zwei Frauen aus Rengershausen,
  • ein Bürger Frankenbergs.
  • Weitere 38 Angeklagte kamen laut Aktenlage aus umliegenden westfälischen Dörfern.
 
 
Eine Hexenverbrennung 1555
 

Hunger und Armut

Die Auswirkungen der Prozesse seien gravierend gewesen, erklärte Glade, laut den Stadtbüchern seien „dardurch die vornembsten hauser ruinert und vacant gemacht", Witwen hätten nicht wieder heiraten können, „sondern all verdorben, und daraus die teurung, hunger und kummer eingefallen".

Am Beispiel Stoffregens erläuterte Glade den Ablauf eines Verfahrens nach der „Halsgerichtsordnung" oder „Carolina" von Kaiser Karl V., der 1532 auch die Folter in die Strafprozessordnung eingeführt hatte. Der Bauer war wegen gleich 13 Punkten angeklagt. Drei Vorwürfe seien in der Regel immer dabei gewesen, sagte Glade:

  • der „Schadenszauber" gegen Mensch, Tier und Natur,
  • die Teilnahme am ausschweifenden „Hexensabbat" oder „Hexentanz" auf meist umliegenden Bergen,
  • bei Frauen die „Teufelsbuhlschaft", bei Männern das Umgehen als Werwolf.

Aber warum griff der Hexenwahn derart um sich? Glade formulierte sechs Vermutungen:

  • Wirtschaftlich-sozialpsychologische Gründe: Der Wahn komme gerade in Krisenjahren auf, in denen der Ruf nach „Sündenböcken" laut werde. So notiere Stadtsekretär Daniel Synesius 1684, in diesem „unfruchtbar trocken jar" seien drei „Hexen" gerichtet worden.
  • Förderung durch die Obrigkeit in Westfalen: Der Kölner Erzbischof Ferdinand von Bayern habe 1607 die „Hexenordnung" noch verschärft, seine Priester mussten „gegen das Hexenlaster" predigen.
  • „Kollektive Wahnvorstellungen": Die vermutet Glade angesichts der sechsmaligen Forderungen von Bürgern und Stadtführung an die Arnsberger Regierung, einen Hexeninquisitor in Hallenberg einzusetzen.
  • Die Eigendynamik der Prozesse: Die gefolterten Angeklagten sollten weitere „Hexen und Zauberer" benennen, die mit ihnen am „Hexentanz" teilgenommen haben sollen. Derartige Anschuldigungen hätten auch im Amt Frankenberg Prozesse ausgelöst.
  • Prozesse als Einnahmequelle: Die Verurteilten mussten fürs Verfahren bezahlen, Inquisitor und Richter, Scharfrichter und ihre Gehilfen verdienten.
  • „Inquisition als Waffe": Unliebsame Zeitgenossen seien beschuldigt worden, um sie loszuwerden: So habe ein Fassbinder 1677 seinen Zunftgenossen denunziert. Gegen diese Strömungen sei aber die Obrigkeit eingeschritten, die zu „Umsicht" gemahnt habe.
 

Luthers Hexenglaube

Auf den Hexen- und Teufelsglauben Martin Luthers verwies Karl-Heinz Hartmann aus Schreufa. Der Reformator sei ein Verfechter der Hexenverbrennungen gewesen, „Hexen" zu verfolgen sei eine „Pflicht des Christenmenschen", habe Luther gefordert, auch Folter zur Erzwingung von „Geständnissen" habe er befürwortet. „Er war da ein wirklicher Hassprediger", urteilte Hartmann.

Auch heute, 300 Jahre nach dem Beginn der Aufklärung, flammt der Hexenwahn noch immer auf. So haben iranische Kleriker um den Revolutionsführer Ali Chamenei erst jüngst den Stabschef des Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad der „Hexerei" bezichtigt. Auch aus Afrika und Asien gebe es Fälle von „Hexenverfolgungen", berichtete Glade, in Saudi Arabien seien voriges Jahr 73 Menschen verurteilt worden.

Den gegenteiligen Weg schlug der Rat der Stadt Hallenberg ein: Im September 2011 beschloss er die „sozialethische Rehabilitierung" der „unschuldig Verurteilten und Hingerichteten". Damit wolle der Rat ihnen die Menschenwürde zurückgeben.

Dr. Karl Schilling